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Es war einmal…“ „Bist Du sicher?“ „Ja, natürlich bin ich sicher!“ „Aber wenn es ja gar niemand gesehen hat – was keiner sieht ist nicht wahr. Nie geschehen.“ „Aber ich weiß, dass es geschah. Also ist es geschehen!“
Rabe saß auf seinem Ast und schaute erst links, dann rechts, neigte den Kopf. „Wer hat es Dir denn erzählt? Es hat doch niemand gesehen?“
„Wer erzählt diese Geschichte, Du oder ich?“
„Na, ich könnte sie genauso gut erzählen wie Du! Du hast sie ja schon tausend Mal erzählt!“
„Aber diesen Kindern habe ich sie noch nie erzählt.“
„Wer weiß das schon, wer weiß!“
Kopfschüttelnd atmete das Reh tief durch. Es wusste, dass Rabe die großen Geheimnisse kannte. Daher achtete Reh die Fragen des Schwarzauges. Aber Reh ließ sich von Rabes Übellaunigkeit nicht aus dem Konzept bringen.
„Es war einmal, liebe Kinder, vor langer Zeit ein kleiner Junge, etwa in eurem Alter. So ein bißchen an Lebenszeit hatte er schon auf der Erde verbracht, und er wusste sehr wohl sich seinen Weg zu bahnen. Er war schlau, aufgeweckt – so wie ihr. Er war manchmal gut gelaunt und manchmal zänkisch wie Freund Rabe hier. Und an einem dieser Tage geriert er mit seiner Mutter in einen Streit.“
„Wie bei den meisten Streits, ist der Auslöser schon lange in Vergessenheit geraten. Geblieben ist das, was der Streit an Schönem hervorbrachte. Denn der Junge aus unserer Geschichte, wir nennen in Jonathan, dieser Junge verstand es zwar nicht sich erst gar nicht zu erbosen, aber er verstand etwas anderes. Und davon erzählt diese Geschichte.“
Rabe hüpfte näher heran. Er wollte genau hören, was Reh erzählte. Denn so oft er die Geschichte auch schon gehört hatte, er konnte einfach nicht genug davon bekommen. Außerdem konnte es ja auch sein, dass eines der Kinder, die zuhörten, seine Schultasche offen ließ. So viel Schmackhaftes fand sich in diesen Taschen – ganze Äpfel, Reste von Nüssen, Schokokrümel, und etwas Salziges, das Rabe entfernt an Kartoffel erinnerte, war manchmal auch dabei.
„An dem Nachmittag, als er sich mit seiner Mutter zankte, verließ Jonathan wutschnaubend das Haus. Er wusste zwar, dass er das Haus nicht verlassen sollte, bevor nicht alle bösen Worte ausgelöscht waren, der Streit beendet war, aber er wollte sich einfach nicht daran halten.
Immer nörgelte seine Mutter an ihm herum. Er wäre nicht fleißig genug. Er wäre nicht hilfsbereit. Er sei überhaupt nicht so, wie er wirklich ist. Empört stapfte er durch die Wiese. Er trampelte und trat fest auf. Wie konnte sie nur sagen, dass er nicht fleißig war! ‚Junge, Du zerstörst mein Haus mit Deiner Tramplerei! Man möchte meinen, hier ist eine Elefantenherde durchgelaufen. Aber nein! Ein einzelner Junge. Übellaunig, aber nur ein Zweibeiner. Tztztz.‘ ‚Maulwurf, es tut mir leid, dass ich Deine Wohnung zerstört habe. Ich habe nicht aufgepasst.‘ ‚Natürlich nicht, Du hast nur empört herumgetrampelt. Wie unhöflich! Niemand ist je voll im Recht, weißt Du.‘ Und damit verschwand der sonst so freundliche Maulwurf wieder. Jonathan schämte sich. Er klopfe vorsichtig bei Familie Maulwurf an. Ganz leise klopfte er, denn Maulwürfe haben ein außerordentlich gutes Gehör. ‚Ja bitte?‘ ‚Herr Maulwurf, ist Euch auch nichts geschehen?‘ ‚Ist schon gut Junge. Es ist noch einmal alles gut gegangen. Was hat Dich denn so in Aufregung versetzt?‘ ‚Ich hatte einen Streit mit meiner Mutter. Sie hat in einigen Dingen recht, aber nicht in allen.‘ ‚Dann hättest Du ihr das besser so gesagt, anstatt hier alles zu zerstören.‘ ‚Ja, das stimmt wohl. Wenn ich nichts weiter tun kann, dann gehe ich jetzt wieder.‘ Der Maulwurf verabschiedete sich und Jonathan ging weiter.
Ein Stück des Weges entlang entdeckte er die Vorratshöhle eines Eichhörnchens. Der fleißige Pfadfinder bereitete sich bereits auf den Winter vor. Jonathan wusste, dass Eichhörnchen im Winter auf ihre Vorräte angewiesen waren. Deshalb trugen sie die leckersten Nüsse in Verstecke, die außer ihnen niemand kannte. Doch Jonathan hatte das Eichhörnchen ein wenig beobachtet und wusste daher, wo es seine Schätze bunkerte. Er hörte, wie sein Magen knurrte. Er streckte die Hand nach den nahrhaften Nüssen aus, sah sich um…
…doch niemand war da. Also deckte er das Versteck ein wenig mit Blättern ab. So, dass es das Eichhörnchen wiederfinden, aber sonst niemand darauf aufmerksam würde. Seinen knurrenden Magen ließ er einfach weiter knurren.
Als er zu Hause ankam, hatte er einen Strauß frisch gepflückter Blumen in der Hand. Er entschuldigte sich bei seiner Mutter. Und dann bat er sie um Verständnis. Denn er war wohl ein guter Junge, der einfach nicht gerne über seine Taten sprach. Seine Mutter, die es verstand mit dem Herzauge zu sehen, erkannte, dass sie sich in diesem Punkt geirrt hatte. Ihr Jonathan war ein ritterlicher junger Mann, der hilfsbereit war und Schwächeren zur Seite stand.
Das Eichhörnchen freute sich sehr, als es zu seinem Versteck zurück kam. Denn jemand hatte es gesichert. Und als der Winter kam, hatte es immer ausreichend Nahrung.“
alle Bilder: pixabay.de
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