PROBLEM ODER GABE?
Neulich hatte ich ein nettes Gespräch mit einer guten Freundin – ja, ein echtes Gespräch, live und in Farbe. Es war ein Traum. Es war die Kirsche auf der Sahnetorte ohne Kalorien. Wir haben uns darüber unterhalten, wie es uns geht, was uns bewegt. Und sind dann schlußendlich auf ein ganz anderes Thema gekommen. Wahrnehmung. Ihre Tochter ist sehr feinfühlig, so wie ich auch. Und während wir so redeten, hat etwas mir laut ins Gesicht gerufen: Hallo, hörst Du zu? Hörst Du, was die Welt da draußen braucht?
Eine Erklärung.
Ich will es versuchen und dazu muss ich ein bißchen ausholen, doch eines gleich vorweg: diese Feinfühligkeit ist die Regel – alle Kinder oder zumindest 98% der Kinder haben sie. Überprüfen sie es selbst anhand dieser Fragen:
- Hat ihr Kind schon einmal behauptet, es würde etwas sehen oder jemand Unsichtbaren im Zimmer haben?
- Weiß ihr Kind, dass der Haussegen schief hängt, obwohl Sie und ihr Mann sich so bemühen sich nichts anmerken zu lassen?
- Konnten Sie schon einmal in den Augen Ihres Kindes sehen, dass Sie es verletzt haben mit einer Unwahrheit?
- Steht Ihr Kind manchmal unter Strom, insbesondere nach Kontakt mit anderen?
Ein Ja zeigt nicht, dass Ihr Kind schräge Fähigkeiten hat, es zeigt bloß, dass es ein normales, gesundes Kind ist. Zwischen unserer Kindheit und der heutigen Zeit hat sich doch einiges getan und einer dieser Entwicklungsschritte zeigt sich in der Wahrnehmungskompetenz der Kinder.
An diese erweiterte Wahrnehmung müssen Erwachsene sich erst gewöhnen. Wir sollen erkennen, dass wir ein bißchen farbenblind sind. Und dass Kinder meist viele, viele Farben sehen können.
Was Wahrnehmung nicht ist
Im NLP und auch aus der jüngeren Geschichte lernt man, dass Label oder Stigmata falsch sind. Sehr oft ist das Label, die Diagnose so mächtig, dass ein gesunder Umgang mit einer Situation nur schwer und mit Hilfe von Experten möglich ist. Auch Auszeichnungen und Lob bekommen von der Gehirnforschung (Dr. Gerald Hüther) und aufmerksamen Beobachtern ein dickes, fettes Minus.
Wir Erwachsenen müssen uns an eine neue Norm gewöhnen – die Welt der Kinder hat mehr Farben, als unsere.
Dr. Verena Radlingmayr
Wahrnehmung, in welcher Form auch immer, ist weder eine Krankheit noch eine Gabe. Wahrnehmung ist kein Label, sie ist eine Tatsache. Ein emphatisches, feinfühliges Kind braucht keine Beruhigungstabletten und auch keinen Therapeuten, der ihm damit hilft. Wir müssen uns einfach an eine neue Norm gewöhnen.
‘Sei doch nicht so übersensibel!’
Die farbblinden Erwachsenen verstehen nicht, wieso das Kind sich aufregt. Das führt bei Kindern zu Frustration, Ärger, und über kurz oder lang zu Selbstzweifeln. Wieso verstehen die mich nicht? Hör mir doch endlich zu!!!! Was stimmt nicht mit mir?
Resignation und ein gedrücktes Selbstwertgefühl sind dann die logischen Konsequenzen.
Nicht das Kind ist übersensibel, Sie sind untersensibel.
Dr.VerenaRadlingmayr
Sie würden ihm ja auch nicht sagen: sei doch nicht so gut in Mathe, nur weil Sie von Integralrechnung keinen Schimmer haben. Muss ich Mathe verstehen, um ein Mathegenie zu lieben?
Zugegeben, Mathe hat im Alltag weniger direkten Bezug. Aber auch ein Mathegenie braucht Förderung, Unterstützung, jemanden, der seine Begeisterung teilt, ohne die Details zu verstehen.
Grün oder grau?
Beides. Etwas kann grün und grau sein. So wie eine weiße Katze nachts grau ist, und trotzdem weiß bleibt. In der Quantenrealität hat jedes Ding die Eigenschaft, die ihm der Beobachter gibt. Eine absolute Wahrheit gibt es nicht.
Deswegen ist es so schwer, diese Realität zu handeln: weil Logik, Erfahrung und Verstand nicht helfen. Und weil in der technologisierten Welt, in der wir leben, für das Weibliche, Sanfte, Intuitive weder Raum noch Nährboden ist. Scheint es.
Doch dann sieht man eine Mutter, die es schafft. Einen Vater, der es kann. Und glaubt wieder an das Gute.
MAG. DR. VERENA RADLINGMAYR