In einer Zeit, in der das Trennende immer mehr in den Fokus rücken will, in einer Zeit, in der Menschen mit Macht ausgestattet werden, mit Recht und Regeln den Rücken gedeckt bekommen, mit Druck von oben nach unten treten sollen und mit Angst so tief verunsichert werden, dass sie jeder Menschlichkeit beraubt werden, fällt es allen schwer sch auf das Gute zu besinnen. Das Herzliche, die Wahrheit, die aus dem Herzen kommt und in der Raum ist und Platz für alle, für Bedürfnisse und Regeln, die gerecht sind. Die grösste Verlockung besteht wohl darin, dass man tut weil man kann. Denn wenn ich Recht habe, wähne ich mich auch im Recht. Doch sollte ich? Oder gibt es sie wirklich, die Zeit, den Augenblick, in dem man Gnade vor Recht ergehen lassen sollte?
Recht und Gerechtigkeit
Nicht alles was Recht ist, ist auch gerecht. Jeder Mensch, der Diktaturen erlebt hat, jeder Mensch, der Amtsmissbrauch gesehen und jeder Mensch, der Zeuge wurde einer tiefen Ungerechtigkeit, weiss das. Nicht alles, was im Gesetz steht, ist auch in Ordnung. Ein Diktator hat Recht: laut der Verfassung seines Staates ist er der rechtmäßige Herrscher.
In vielen Rechtsgebieten gibt es klare Vorschriften: im Ortsgebiet 50 zu fahren ist klar, in der 30-er Zone ist auch klar, wie schnell man fahren sollte. In anderen Rechtsgebieten ist es nicht mehr so einfach. Wenn es um das geistige Eigentum geht, also die vielgeliebten Rechte von Autoren, Musikern, Kunstschaffenden und Erfindern, aber auch Rechte von Marken, dann gibt es nur vage, auslegungsbedürftige Gesetzestexte. Das macht erfinderisch, das macht es spannend, das macht es aber auch gefährlich, denn dann läuft man Gefahr, dass das Recht auf einmal in den Händen derer liegt, die es sich leisten können, die den besseren Anwalt haben, die wieder und wieder einen Rechtsstreit führen, so lange bis es ‘gängige Rechtssprechung’ ist. Dann haben diese Betreiber das Recht auf ihrer Seite. Zu recht?
Auch im zwischenmenschlichen Bereich ist Recht eine Auslegungssache. Wer je einen Streit geführt hat, weiss, dass jeder sich im Recht wähnt. Wer eine Scheidung erlebt hat, hat vielleicht auch die dunklen Seiten der Menschheit gesehen. Und nicht selten kommen auch beim Erben die Schattenseiten hervor, Untiefen, von denen man nie gedacht hätte, dass sie existieren.
Aktuelle Lage
Aktuell gibt es so viele Vorschriften, so viele Regeln, bei denen ich als Juristin mich frage: wo bleibt da der Menschenverstand? Wo bleiben Feingefühl und Menschlichkeit? So gibt es zum Beispiel seit einigen Jahren wieder mehr Schüler, die im Heimunterricht unterrichtet werden. Viele engagierte Frauen haben sich ein Herz gefasst und sich weitergebildet, um ihren Kindern die aus ihrer Sicht bestmögliche Ausbildung angedeihen zu lassen. Das braucht Mut, Entschlossenheit, Hingabe und ich bin mir sicher, dass niemand das auf die leichte Schulter nimmt, schliesslich geht es hier um die Zukunft der Kinder.
Externisten, so werden diese Schüler genannt, müssen eine Externistenprüfung ablegen. Wir sprechen hier von Volksschulkindern ab der ersten Klasse, sechsjährigen, siebenjährigen. Kleinen Kindern.
An einem Tag sollen die Kinder zeigen, dass sie den gesamten Jahresschulstoff verstanden haben und anwenden können. Das heisst, Erstklässler treten zu einer Matura (Abi) an. In einem fremden Gebäude, vor fremden Menschen. Ich habe selber maturiert, als ich 18 war, und die Nerven lagen damals bei uns Großen oft blank. Es hängt ja viel davon ab, richtig?
Viele Schulen bestehen darauf, dass die Kinder alleine in den Prüfungsraum gehen, ohne Eltern. Sie dürfen das, weil das Gesetz ihnen diese Möglichkeit nicht nur einräumt, man könnte sagen, es schreibt sie vor.
“Do huit”s mi!”
(Da holt es mich, Ausdruck der Rage und Empörung meiner Cousine)
Wenn ich mir vorstelle, man schickt Erwachsene in eine Jahresüberprüfung, wenn ich mich daran erinnere, wie viel Stress Prüfungen jeder Art für Menschen jeden Alters sein können, dann frage ich mich, ist das menschlich? Ist das gerecht? Wird man hier dem kindlichen Bedürfnis nach Schutz gerecht? Geht man hier auf die kindlichen Bedürfnisse ein? Hat man sich gefragt, wie man sich als Kind von sechs Jahren vor fremden Menschen in fremder Umgebung fühlt? Und warum gibt es Schulen, die auf dem Recht beharren? Ist das rücksichtslos? Ist das nun mal so? Ist das Recht? Und ist es mit der unantastbaren Würde des Menschen, mit Menschlichkeit vereinbar?
Ein Beispiel von vielen. Versuchen Sie doch mal, bei einem Amt oder Stromanbieter einen Termin zu verschieben, aufgrund einer Notsituation. Da heisst es dann schnell: geht nicht. Kulanz? Gibt’s nicht. Wir sind im Recht. Versuchen Sie doch mal, im Lockdown einen geliebten Menschen länger als 15 Minuten zu besuchen. Versuchen Sie, als alter, schwacher Mensch nicht von ihrem Ehepartner getrennt zu werden. Nach 45 Jahren Ehe, wenn beide dement sind, gibt es nach logischen Kriterien nichts, das dafür spricht, dass diese zwei sich noch kennen. Aus ganzheitlicher Sicht ist aber ganz klar, dass die Herzensverbindung so stark ist wie eh und je. Und ja, man kann auch an gebrochenem Herzen sterben. Die Trennung ist gesetzeskonform, sie ist möglich. Ist sie auch menschlich? Ist damit der Würde, der unantastbaren Würde des Menschen, wohl getan?
Und warum ist das wichtig?
Ungerechtigkeit ist eine interessante Sache. Sie lastet schwer auf der Seele – auf der Seele des Verursachers, des Peinigers, und auf der Seele des Betroffenen. Sie lastet oft auch auf den Seelen derer, auf den Schultern jener, die ein Unrecht nur erzählt bekommen, es als Beobachter miterleben.
Man ist oft erschüttert darüber, mit welcher Leichtigkeit andere über Wohl und Glück eines Menschen hinweggehen, jemanden mit Füssen treten, das mittragen, was von oben diktiert wird, ohne Rücksicht auf Verluste. Mitläufer hat es schon immer gegeben, sie sind es, die Diktaturen ermöglichen, Kriegsverbrechen, Schändungen. Mein Opa hat mir erzählt, dass jene Soldaten, die die wirklich schändlichen Taten begannen waren, in seiner Einheit immer Freiwillige waren. Macht kann tatsächlich den Charakter verderben, wenn man nicht mehr auf sein Herz hoert. Was so pathetisch klingt ist nichts anderes als der notwendige von der Natur oder Gott in uns angelegte Ausgleich, der die Grundlage für jenen Satz ist, der wahre Würdenträger auszeichnet: Gnade vor Recht ergehen lassen. Mit Macht kommt Verantwortung und wenn man zu hart wird, ist niemandem gedient.
“Aber mit sanft überredender Bitte / Führen die Frauen das Zepter der Sitte, / Löschen die Zwietracht, die tobend entglüht, / Lehren die Kräfte, die feindlich sich hassen, / Sich in der lieblichen Form zu umfassen, / Und vereinen, was ewig sich flieht.” Schiller, Würde der Frauen.
In jedem Menschen steckt etwas Edles, Schönes. Wir sind hier angetreten, um eben diese Seite ans Licht zu bringen. Wenn wir straucheln, ist das ein Angebot, aus dem Fehler zu lernen. Wer erkennt, was dahinter steckt, wer einsieht, was falsch gelaufen ist und sich und anderen vergeben kann, der wird sich weiter entwickeln.
Bitterkeit und Resignation
Manche Menschen sehen das Unrecht der Welt und verzweifeln daran. Ja, diese Ereignisse können einen leicht den Glauben an das Leben verlieren lassen. Wer Gerechtigkeit im Herzen hat, diese Flamme, die so hell brennt und warm lodert, die nichts verbrennt, was gut und schön ist, der will nicht glauben, wie viel Menschlichkeit, wie viel irren und schwach sein es gibt. Das hehre Herz hält sich selbst an hohe Standards und läuft leicht Gefahr, sich in der Unmenschlichkeit selbst zu verlieren. Das hehre Herz kann, wenn es vom Taumel der Ungerechtigkeit getroffen und in die Strudel dieser Tiefen gezogen wird, leicht zum blinden Zerstörer werden. Oder zum verbitterten Gutmenschen, der in sich keinen Antrieb mehr findet.
Dann wird es Zeit sich auf das zu besinnen, was auch in jeder Seele steckt: den Göttlichen Funken in uns. Den Splitter an Göttlichkeit, der jeden an seinen Wert, vor allem aber auch an die Göttlichkeit des Lebens, den Göttlichen Plan erinnert. Wir mögen ihn nicht sehen, wir können diesen Plan nicht schauen, aber wir dürfen, sollen, müssen ihm vertrauen. Denn nur so kann es gelingen, angesichts der Ungerechtigkeiten dieser Welt den Mut nicht zu verlieren. Nur so kann es gelingen zu verstehen, den anderen aus vollem Herzen zu sehen und seine Fehler in das Licht der göttlichen Gnade zu halten. Dann kann das Leuchten in der Seele und das Lachen in den Augen weiter bestehen.
Und man begegnet den Menschen wieder mit Würde, mit Menschlichkeit, und dem Leben mit Vertrauen.